Trauer oder was? Eine kritische Beobachtung
IT-Startups haben die Trauer als lukratives Terrain entdeckt, IT-Künstler erfanden eine neue Form der bisher eher spirituell gedachten Ewigkeit.
Sie „trösten“ Trauernde mit digital erweckten, fortan unsterblichen Avataren, zuweilen eher gruseligen Kopien verstorbener Personen.
Trauer ist eine spontane, natürliche und selbstverständliche Reaktion die einen Trauerprozess auslöst.
Seit vielen Jahren begleiten Laien, Psychologen und Seelsorger Menschen, die in ihrem schweren Abschiedsschmerz individuelle, kompetente Begleitung wünschen oder, im Falle eines klinischen Erscheinungsbildes, z.B. bei „psychiopathologischen Trauerreaktionen“ einer Therapie bedürfen.
Die Trauererschließung- und Begleitung bedient sich unterschiedlicher Wege. Alle bisherigen Formen der Unterstützung verfolgten ein Ziel: Einen gesund vollzogenen Abschied zu erreichen. Dazu gehört die Akzeptanz der Realität des Todes. Dazu gehört das „Loslassen und Gehenlassen“, des Verstorbenen. Damit ist freilich nicht das Ende des Andenkens gemeint.
Nach dem guten Verlauf des Trauerprozesses, werden Schmerz und Not verblassen und sich allmählich zu liebevollem, stärkendem Erinnern wandeln. Der Blick in die eigene Zukunft unter den Lebenden ist wieder frei.
Zur Erinnerung an Verstorbene und Episoden des gemeinsamen Lebens boten sich schon seither Videos oder Fotoalben an. Der Zeitgeist der Gegenwart möchte uns mehr bieten.
Seit einigen Jahren schon basteln It-Leute in Amerika und Asien an Avataren und interaktiven Unterhaltungswelten. Wenn ein Lebender sich selbst kopieren lassen mag, sich seinen eigenen Doppelgänger wünscht, wenn der Nutzer sich in Eigenverantwortung auf der digitalen Spielwiese herumtreiben mag -vielleicht für ewig, entzieht sich das zuweilen der Vernunft, scheint mir auf den ersten Blick moralisch wenig verwerflich.
Was hat die virtuelle Welt mit Trauer zu tun?
„ KI macht es möglich mit Verstorbenen zu chatten“.
Die skurrile, digitale Kunst schafft das Verlorene zurück – zumindest dann, wenn wir uns das vorgaukeln lassen. Virtuelle Räume bieten an, „Verstorbenen“ (in Form eines Avatars) zu begegnen und in Interaktion zu treten. Manche der digitalen Doppelgänger sprechen mit den identischen Stimmen der Verstorbenen und reagieren individuell auf Fragen ihrer (lebenden) Partner. Es entsteht der Eindruck eines (eher faden) Livegesprächs am Bildschirm, vergleichbar wie wir es mit Skype kennen.
Gestaltet, oder spitz formuliert „geboren“ werden die virtuellen Gestalten aus dem digitalen Nachlass (Videos, Sprachmemos) des Verstorbenen. Sprache, Gestalt, Outfit, Vorlieben werden in aufwendiger IT-Arbeit zu einer fortan unsterblichen „Schöpfung“ oder „Auferstehung“.
Meine erste Konfrontation mit dem Film eines per IT-Order, nach seinem frühen Tod wieder geschaffenen Kindes ließ mich erschaudern.
Die Thematik: Eine junge Mutter wünschte sich, ihr zuvor schwer krankes, abgemagertes, inzwischen verstorbenes Kind noch einmal, aber gesund und munter zu erleben.
Im Film (gestaltet in Korea) trifft die Mutter, ausgerüstet mit IT-Spezialbrille- und -Handschuhen ihr Mädchen. Sie treffen einander in einer früher schon frequentierten Parkanlage. Sie sprechen und lachen. Die Mutter berührt und liebkost das Kunstgebilde, als wäre es ihr lebendes Kind und sie scheint sehr beglückt!
Man darf sich fragen: Ist das gestört oder nur gruselig?
Ausschnitte aus dem genannten Film zeigt:
(https://www.t-online.de/digital/internet/id_87342326/herzzerreissendes-video-
trauernde-mutter-trifft-verstorbene-tochter-in-vr-welt-wieder.html)
Kann solcher IT und KI -Hokuspokus tatsächlich einem trauernden Gemüt helfen?
Was bewirken derlei seelenlose, weiterlebende Kunstfiguren mit dem Gemüt der Zurückgebliebenen auf Dauer? Der geliebte Mensch ist weg, verbrannt oder begraben und doch bleiben Trauernde emotional gebunden an etwas, das niemals annähernd das sein kann was schmerzvoll entbehrt wird.
Tod und Trauer gehören zum Leben. Was wir unter Trauer verstehen sollten, ist ein notwendiger Regenerations-Prozess des verletzten Gemüts nach ungewollter Trennung.
Ein Avatar aber verleugnet den Verlust. Das Festhalten an der Kopie des Verstorbenen verschiebt oder unterdrückt den Trauerprozess, der dann nie endet oder zur Unzeit vehement wiedererwacht.
Wann hat die Trauer ein Ende? Darf der Avatar auch irgendwann sterben? Verschwindet er gar ungewollt mit dem Existenz-Ende seines online-Betreibers und löst neue Trauer aus?
Oder schwirren beide, im Leben einst Verbundene, zuletzt als Avatare auf ewig gemeinsam durch das Metaversum? Eigentlich hieß es (aus gutem Grund): „Bis dass der Tod uns scheidet“…
Ich schätze, die Begegnung mit dem Avatar bleibt ein virtuelles Spiel, das im besten Fall die Freude am Experiment befriedigen kann.
Es bleibt zu hoffen, dass die Mehrheit unter uns Lebenden weiterhin tiefer schaut, weiterdenkt und fühlt. Ein Avatar ersetzt das Bild des biologisch-sterblichen Teil des Menschen. Seine Stimme spricht nicht aus der Seele, Gefühle sind höchstenfalls inszeniert und seine Worte sind von der künstlichen Intelligenz aus der Vergangenheit herauskopiert. Selbst wenn er/sie/es (KI) neue Regungen und Worte „lernt“ bleibt das Gebilde ein für sensible Gemüter riskantes Unternehmen. Sollte ein Hacker gar mit der Figur Schindluder treiben, gerät erwarteter Trost leicht zum Trauma.
Der Tod hat einen Sinn. Die meisten Kulturen, Philosophen und Religionen beschreiben die Grenzen unseres irdischen Daseins zwischen Geburt und Tod. Sie bezeichnen den Tod als die Geburt in eine neue, rein geistige Dimension.
Seit Urzeiten ist im Menschen das Verlangen nach einer spirituellen Verbindung zu ihren Verstorbenen angelegt. Ich habe in hunderten Gesprächen erfahren, dass gerade in der Zeit der akuten Trauer viele Menschen Kontakt zu einer spirituellen, höheren Erfahrung suchen und finden. Diese Erkenntnisse stärkten mir die Gewissheit, dass auch nach dem Tod eines geliebten Menschen noch lange Zeit eine geistige Verbindung bestehen kann. Es ist schwer zu beschreiben, nicht zu belegen aber es ist durchaus erfahrbar, dass weiterhin Gedanken und Signale die Ebenen zu wechseln vermögen. Nicht so laut halt, nicht so bunt!
In allen Kulturen ist die Störung der Totenruhe ein wichtiges Thema. Da geht es nicht nur um das Grab oder den Leichnam, sondern auch um die Ehre und den Respekt vor dem Andenken der Toten. Aus diesem Grunde erhebt sich die Frage nach Recht, Moral und Ethik, wenn ohne vorherige Einwilligung oder testamentarische Verfügung eine Persönlichkeit quasi neu erfunden und fremdbestimmt weiterexistieren soll.
Es ist zu hoffen, dass das Spiel nicht gar zum Störfaktor gerät der die vom Körper erlöste Seele in der geistigen Welt am „Fortwirken“ * aufzuhalten droht.
(Goethe: […] denn ich habe die feste Überzeugung, dass unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur: es ist ein *fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit […].
IT-Entwickler glauben machen zu müssen, was machbar ist. Das ist in der Forschung eben so und nicht neu. Den Auftraggebern eines „Trauer-Trost-Avatars“ wäre zu wünschen, sich nicht zuletzt im Hinblick auf das eigene, wirkliche, unvermeidbare Sterben hin, mit der Realität des Todes und dessen, was danach kommen mag auseinander zu setzten.
Notizen:
Zitat: (Deutschlandfunk 15.12.2020): Früher haben Kirchen und Wunderheiler ewiges Leben versprochen, heute wollen IT-Startups uns als digitale Kopien unsterblich machen. Ein Gespräch über ein Menschheitsexperiment mit ungewissem Ausgang.
Für 50 US-Dollar pro Jahr will Somnium Space seinen Nutzerinnen ermöglichen, einen lebensechten Avatar für den Fall ihres Todes in einer VR-Welt zu speichern.
Im Internet finden sich vielerlei Informationen und Angebote, ein kleiner Ausschnitt:
„Diese KI macht es möglich mit Verstorbenen zu chatten!“
„Auferstehung 2.0 Verstorbene kommen als Avatare zurück“
„Auferstehung von den Toten – Trauerarbeit mit KI-Avataren
„ KI und Tod: Kann man bald mit Verstorbenen telefonieren?“
– und so weiter!
Im Mai 2023 Jutta Bender, Psychologin, Traueragogin https://www.trauer-kultur.info